Innovation unter Druck

Wirtschaftliche Zwänge und Kreativität in der Spieleindustrie




Text: Alexander Feyerke    Bild: Photocase.com

Was dem einen sein Mordsimulator, ist dem anderen die nächste große Kunstform, ein neues Medium für ein neues Jahrtausend. Die Meinungen gehen auseinander. Solche Aussagen klingen vertraut, war doch die Popularisierung jeder neuen Medientechnologie von ähnlich pessimistischen und zugleich euphorischen Reaktionen gekennzeichnet. Schon Buchdruck, Kino, Radio und Fernsehen wurden als unnütz, gefährlich und die Jugend korrumpierend verschrien, während andere ihr Demokratisierungspotential lobten und ungeahnte Chancen erkannten. Wie auch immer die Reaktionen zu Anfang sind, meist pendelt sich das neue Medium irgendwo zwischen diesen beiden Extremen ein. In jedem Fall aber wird es als Markt entdeckt und kommerzialisiert. Im freien Markt sind hehren Ziele und Demokratisierungsideale wenig wert, wenn sich dafür keine Werbekunden finden. Dazu kommen die üblichen Konzentrationserscheinungen, wenn sich Medienunternehmen zwecks Effizienzsteigerung zusammenschließen und expandieren. Die Unternehmen wachsen, die Aktionäre wollen Gewinne sehen und die Produkte werden mehr und mehr auf Profit getrimmt.

Mittlerweile ist dieses Konzentrationsphänomen endgültig in der Spieleindustrie angekommen. Die großen Vertriebe kaufen kleine Studios und neue Talente auf, und die Entwickler sehen sich plötzlich mit ganz neuen Problemen konfrontiert: Projekte müssen vom Vorstand, der Marketingabteilung und ähnlichen Stellen erst abgenommen werden (greenlighting). Ob ein Projekt durchkommt, hängt von dem potentiellen Gewinn ab: Der Titel muss erfolgreich werden. Es gilt, wie auch bei Kino, Fernsehen und Musik, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden und eine größtmögliche Zielgruppe anzusprechen.

So hatten in den letzten zwei Jahren Rennspiele, in denen man seinen „ride“ nicht „pimpen“ konnte, kaum Chancen auf dem Massenmarkt. Erst waren Kinofilme mit dieser Thematik erfolgreich (The Fast and the Furious 1 + 2), dann die Fernsehserie (Pimp my Ride auf MTV), und schließlich erkennt ein schlauer Marketingmensch einen Trend und gibt ein Spiel in Auftrag, bei dem es um bis ins Absurde aufgemotzte Autos und von Hip Hop und Nu Metal unterlegte Straßenrennen geht. Kaum hat ein Spiel dieser Art Erfolg, sind bald ähnliche Konkurrenzprodukte auf dem Markt, und wenn der Trend anhält, gibt es von all diesen Titeln auch noch Fortsetzungen.

Externe Trends, vor allem aus der Filmindustrie, werden also gerne genommen. Besonders Filme auf Basis starker Markenidentitäten (Star Wars, Spiderman, Harry Potter) sind bei Spieleherstellern sehr beliebt. In den meisten Marketingabteilungen herrscht die irrige Annahme, dass es bei einer ausreichend bekannten Marke völlig nebensächlich ist, wie gut das Spiel ist. Der Name wird das Produkt schon verkaufen. Diese erstaunlich kurzsichtige Idee führt seit über zwei Jahrzehnten zu einer kaum mehr überschaubaren Masse an mäßigen oder schlicht grauenvollen Spielen und teilweise katastrophalen finanziellen Flops. Hier steht meistens das Marketing bevor das Spielkonzept steht, und meist ist es auch das Marketing, das letztlich die Titel verkauft.

Doch innovationsfreie Spiele sind leider alles andere als erfolglos: Trends wären nicht Trends, wenn sie sich nicht gut verkaufen ließen. Ein kurzer Blick auf die deutsche Top 10 der Computerspiele vom 10.05.06 bietet wenig Überraschungen:

1. Guild Wars: Factions
2. FIFA Fußball Weltmeisterschaft 2006
3. Ghost Recon: Advanced Warfighter
4. The Elder Scrolls IV: Oblivion
5. Die Sims 2: Family Fun-Accessoires
6. World of Warcraft
7. Die Sims 2: Open for Business
8. Counter-Strike: Source
9. Counter-Strike Anthology
10. Die Sims 2
(Quelle: GfK)

Nur World of Warcraft ist ein eigenständiges Spiel, das nicht eine Erweiterung, Neuauflage oder Fortsetzung eines anderen ist. Dafür findet es in einer Fantasywelt statt, die schon seit 1994 in verschiedenen Spielen Verwendung fand.

Dabei bietet der Markt durchaus Alternativen zur Einheitsware: Noch gibt es kleinere Studios, die neue, interessante und reife Spiele produzieren und nicht jede Mode mitmachen. So wählte die eher trendimmune Spieleseite Eurogamer den Titel Psychonauts zum Spiel des Jahres 2005. Generell fand das Spiel großen Anklang bei Spielejournalisten in aller Welt. Psychonauts hat eine spannende Story, feinen, bisweilen sehr schrägen Humor, ein unverbrauchtes Setting (nämlich anderer Leute Gedanken), interessante Charaktere und ein ausgefeiltes Skript. Es hatte auch keien kommerziellen Erfolg. Außer den etwa 50 000 Leuten, die das Spiel gekauft haben, dürfte es kaum jemand kennen. Es hatte keinen finanzstarken Vertrieb, keine unterstützende Marketingmaschinerie, keinen Trendfaktor und keine beeindruckende Grafik. Majesco, der Vertrieb von Psychonauts, musste Gewinnwarnungen herausgeben und wird inzwischen von seinen Aktionären verklagt. Die Lektion? Innovation lohnt sich nicht.

So verwundert es kaum, dass Tim Schafer, der Kopf hinter Psychonauts, ein bekannter Spieledesigner mit beeindruckendem Resümee, bei der Suche nach einem Vertrieb für sein nächstes Spiel die neuen Ideen und Konzepte gezielt herunterspielt um die potentiellen Investoren nicht zu erschrecken (Quelle:
Yahoo Games-Artikel). Je bekannter und bewährter (oder, je nach Standpunkt, alt und langweilig) die Elemente des Spiels sind, desto höher sind dessen Chancen. Schafer ist leider kein Einzelfall, ähnliche Geschichten gibt es in der Industrie zuhauf.

Zu diesen aus anderen Medienindustrien schon bekannten Tendenzen gesellen sich allerdings noch einige computerspielespezifische Schwerigkeiten.

Die breite Akzeptanz eines Spieles ist in hohem Maße von der Grafikqualität abhängig, ein Maßstab, der im Kern eher technischer als künstlerischer Natur ist. Spielegrafik zielt auf immer akkuratere Abbildung der Realität, und mit den neuen Konsolen der 7. Generation (
Xbox 360, Playstation 3) rückt dieses Ziel in greifbare Nähe. Spiele veralten wesentlich schneller als andere Medienprodukte: in einem Film aus den 80er Jahren sieht ein abgebildeter Mensch aus wie ein Mensch, in einem gleich alten Spiel nicht. Um ein Spiel erfolgreich verkaufen zu können, muss es also in den meisten Fällen gewisse grafische Mindestanforderungen erfüllen. Dabei steigt der Aufwand mit jeder Hardwaregeneration: höhere Auflösungen, größere Spielwelten, mehr Details, flüssigere Animationen bedeuten mehr Arbeit und höhere Investitionen. Wer sich an dem prestigeträchtigen Wettrüsten nach mehr Realitätsnähe beteiligt, muss mehr investieren, und wird demnach weniger riskieren wollen: Ein nur schwer zu durchbrechender Teufelskreis.

Dass es auch anders geht, zeigt Nintendo: schon mit dem
Gamecube ging die Firma gezielt andere Wege als die Konkurrenz, die hauptsächlich auf damals extravagante Rechenkapazität und bombastische Grafik setzte. Mit ihrer neuesten Konsole, Wii, wurde aus dieser Zurückhaltung eine Kampfansage: Wii ist PS3 und Xbox 360 an Rechenkapazität maßlos unterlegen, bietet aber völlig neue Steuerungsmöglichkeiten und kostet wesentlich weniger. Nintendos Spielemarken (Mario, Zelda, Metroid usw.) haben sich mit den Jahren eine gewisse Unantastbarkeit erarbeitet. Die Firma kann es sich erlauben, Wagnisse einzugehen, und ihr Mut wurde bisher immer belohnt.

Wie also sonst der erschreckenden Inhaltsleere der meisten Computerspiele entgegenwirken? Den seelenlosen Aneinanderreihungen schlechter Actionfilmklischees, den fadenscheinigen Plots, der Angst vor einem eigenständigen Stil, vor mutigen Ideen, vor Spielen, die nicht nur Spaß, sondern auch nachdenklich machen? In der Filmindustrie wird Experimentierfreude und Unkonventionalität unterstützt, es gibt Filmförderungen, Independentfestivals und das Mäzenatentum wohlhabender Schauspieler. In der Musikindustrie dagegen können kleine Nischen ohnehin einfacher bedient werden, weil die Herstellung von Inhalten verhältnismäßig günstig ist. Sowohl Film und Musik abseits des Massengeschmacks funktionieren und sind finanziell vertretbar.

Doch gerade weil Spiele oft ganz ohne Handlung auskommen oder mit platten Dialogen glänzen, mangelt es an gesamtgesellschaftlicher Akzeptanz von Spielen als Kulturgut. In den etablierten Medien kommen Spiele meist nur in der Werbung oder im Zusammenhang mit Schulschießereien vor, was einem ausgewogenen Image sicherlich nicht dienlich ist. Die Tatsache, dass Videospiele solch kurze Lebenszyklen haben dürfte die Idee der flüchtigen, wertlosen Unterhaltungsware ebenfalls bestärken. Es mangelt unter Anderem an historischer Aufarbeitung: Alte Spiele sind für viele Menschen weder bekannt, relevant noch zugänglich. Es gibt keine Geschichte, es gibt nur Trends.

Es gibt aber auch gegenläufige Tendenzen: ein New Games Journalism etabliert sich, der nicht nur Produkte beschreibt, sondern, wie in einem Reisebericht, höchst subjektiv von im Spiel gemachten Erfahrungen und Erlebnissen berichtet. Microsoft und Nintendo werden auf ihren neuesten Konsolen in Zukunft alte Spieleklassiker zum Herunterladen anbieten. Kleine Spieleschmieden verkaufen ihre Produkte im Netz und umgehen klassische Vertriebsstrukturen. Die Käuferschichten werden breiter und die Erwartungen diverser. Und die Kinder, die in den 80ern mit Spielekonsolen aufgewachsen sind, sind heute durchaus bereit für Spiele mit höherem Niveau.

Viele Spiele der letzten 30 Jahre sind, das sollte man nicht verklären, völlig zu Recht in Vergessenheit geraten. Doch die Spieleindustrie ist noch jung, und das Potential größer denn je. Bleibt zu hoffen, dass auf dem Markt Platz ist für Innovation, denn mit noch mehr leicht zu vergessender Massenware werden Video- und Computerspielen nie mehr als das sein, was sie zu Beginn waren: teure Spielzeuge.

AUSGABE 48
DIE GESELLSCHAFT DER SPIELER





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EDITORIAL VON BJÖRN BRÜCKERHOFF

DIE ZUKUNFT DES SPIELENS
ENDLICH MAL RUNTERKOMMEN
SNIPERN, ROTZEN, RAUSROTZEN
INNOVATION UNTER DRUCK

MEIN LEBEN MIT (UND OHNE) DR. JONES
FLUCHT IN DIE TRAUMWELT
SCHLEICHWERBUNG IN COMPUTERSPIELEN
HEIMWEH NACH ZUKUNFT
MOBILE GAMING
LILA GEGEN GRÜN
STEILVORLAGE FÜR DIE FANTASIE
DIE FASZINATION DER STEINE
SPIELE UND JUGENDMEDIENSCHUTZ
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