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 TV-INSZENIERUNG DES 
    PRIVATEN
 Die ewige 
    Wiederholung
 
 
 TEXT:
  STEPHAN 
    ISERNHAGEN, PARIS ILLUSTRATION:
  BJÖRN 
    BRÜCKERHOFF 
 
 Das Private im Reality-TV ist 
    nicht mehr als eine bloße Kopie unserer Gesellschaft: in und durch sie 
    werden Verhaltensnormen tradiert, eingeübt und wiederholt. Dadurch 
    erscheinen diese TV-Formate berechenbarer und gefahrenloser,
    als in der öffentlichen Debatte angenommen. 
    Das Private in ihnen hat sogar einen gesellschaftlichen Nutzen.
    Durch ihre Inszenierung sieht die Gesellschaft 
    sich selbst und vergegenwärtigt ihre Normen.
 
 Vor wenigen 
    Jahren: der Chef der niederländischen Fernsehproduktionsfirma Endemol 
    tingelt durch Europa und erklärt in Talkshows das Prinzip seines neuen 
    TV-Formats (Big Brother). Was Dauer-Marktführer RTL für einen Flop hält und 
    nicht senden will, entpuppt sich als Fernseh-Hit des Jahres, dominiert 
    wochenlang die Boulevard-Presse. Die Bild-Zeitung druckt zum Start der 
    Hit-Serie exklusiv das Konterfei aller Kandidaten 
    auf der ersten Seite und 
    verfolgt das Haus-Geschehen durch tägliche Berichterstattung.
 
 Doch der Erfolg des 
    holländischen TV-Konzepts vergeht schnell.
    Wer kennt heute noch den Sieger 
    der ersten Brother-Staffel, der überraschend in der Gunst der Zuschauer an Zlatko und Jürgen vorbei 
    gezogen ist?
 
 Mit dem Reality-Kracher Big Brother ist die Tür 
    geöffnet zu ähnlichen Formaten, die ihre letzte konkrete Entsprechung im RTL 
    Dschungelcamp Anfang des Jahres finden. Immer dabei: die öffentliche, durch 
    Medien transportierte Entrüstung von Politikern und Verbänden. Zuletzt war 
    es Renate Schmidt (SPD), Bundesfamilienministerin, die sich darüber 
    empörte, dass die Brother-Bosse den kleinen Sohn der ‘Mutter 
    Herzlos’ 
    (Bild-Zeitung) Sandra für wenige Stunden in den TV-Knast sperrten. Kurze Zeit 
    später lässt RTL2 eine Erklärung verlesen: Die Stripperin (nach eigenen 
    Angaben peinlichster Moment im Leben: „Als beim Strippen der BH nicht 
    aufging“) muss ausziehen, soll sich um ihren Jungen kümmern. Bumm, 
    aus der 
    Traum vom großen Geld.
 
 Die Liste der Bewohner liest sich wie ein Who 
    is Who der Gelegenheitsarbeiter und Sexsüchtigen. Nicht erst als es zu 
    „Sauna-Sex“ und „bizarren Champagner-Spielchen“ (Bild) kommt ist klar, womit 
    Big-Brother die ganz große Quote einfahren will: Das 
    spezielle Privatleben der 
    Akteure. Auch wenn es verpackt darum gehen mag, die Ernährungslage der 
    ganzen Gruppe durch Abenteuerspiele zu verbessern (Dschungelcamp) oder in 
    einen anderen Wohnbereich aufzusteigen, indem die Strohmatte gegen das 
    Wasserbett getauscht wird: im 
    Kern stehen immer höchst 
    private Lebensbereiche im Mittelpunkt 
    der TV-Inszenierung. Dabei wird es oft schön schmuddelig-schmutzig: die 
    Infrarot-Kamera filmt die Brother-Kandidaten auch nachts, in Kammergesprächen beichten und tratschen 
    "die Bewohner" 
    einzeln vor 
    einer großen Scheibe, hinter der sich das TV-Team verbirgt. Im Dschungel 
    wird Caroline Beil selbst unter dicken Palmenwedeln abgehorcht, als sie ihre 
    Mitspielerin ‘freaky fucking face’ nennt. Und auf der Brother Homepage gibt 
    es über jeden Kandidaten eine Rubrik: „intime Geständnisse“. Da erscheint 
    es fast schon lächerlich, wenn Pornodarsteller ‘Sachsen-Paule’ für einige 
    Zeit ins Brother-Haus zieht und in der Boulevard-Presse vorab ankündigt, 
    mit wem und mit wie vielen er Sex haben wird, 
    als ob das eine Sensation wäre.
 
 Es handelt sich 
    bei diesen Inszenierungen vom Privaten nicht nur um Strategien besonders 
    cleverer Fernsehmacher, sondern  
    
    – gerade wegen der Einbettung in unsere 
    Gesellschaft  
    
    – um Inszenierungen, in denen unsere Gesellschaft 
    die 
    Privatsphäre definiert. Diesen Mechanismus erkannte schon der französische 
    Historiker und Philosoph Michelle Foucault, einer der einflussreichsten 
    europäischen Denker nach dem Zweiten Weltkrieg, in der bürgerlichen 
    Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.
 
 Foucault hinterlässt der Wissenschaft
    mit seinen düsteren und verschrobenen Werken  
    
    – wie man auch immer den Wert seiner Erkenntnisse 
    beurteilen mag  
    
    – einen kritischen Beitrag zur Geschichte des 19. 
    Jahrhunderts. Oder allgemeiner: zur Geschichte der Menschheit. In seinem 
    letzten großen Werk, einer mehrbändigen Geschichte der Sexualität, geht 
    Foucault sogar bis in die Antike zurück und 
    untersucht christliche und heidnische Sexualmoral. Langgezogene 
    Sinnzusammenhänge breitet der Philosoph in seinen Büchern aus, oft bleibt 
    er unklar und unverständlich. Dennoch, der bekennende Marxist, der von 1950 
    bis 1953 sogar Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs 
    war, bekommt 
    die prominentesten Lehrstühle an Frankreichs Elite-Unis, unter anderem am 
    renommierten ‘Collége de France’ in Paris und an der ‘ENS’, der Ecole 
    Nationale Superieure.
 
 Für die einen ist er der Meister eines neuen historischen Denkens. 
    Für die anderen ist Foucault das Abbild eines Wahns, dem nichts heilig ist, 
    der ständig ‘dekonstruiert’, zuletzt die eigene  
    
    – liebgewonnene 
    
    –  
    ‘Geschichte’ als Wissenschaft. Der homosexuelle Foucault infiziert sich in 
    den ersten AIDS-Jahren der Achtziger mit dem tödlichen Virus. 1984 
    stirbt er und läßt ein Werk zurück, dass heute von Historikern, 
    Soziologen und Philosophen in mehrere Etappen und Entstehungsphasen 
    eingeteilt wird. Kaum möglich, lapidar 
    über ‘den Foucault’ zu sprechen, 
    weil jeder Diskutant einen anderen Foucault denkt. Also 
    teilen die Foucault-Kenner ihren Meister in verschiedene Stadien auf
    
    
    –
    mit der 
    Konsequenz, dass nur eine winzig kleine Elite über und mit Foucault 
    sprechen oder streiten kann, weil keiner so richtig weiß, worauf man sich 
    bezieht, wie sich die Grenzen zwischen ‘den Foucaults’ legitimieren und in 
    welcher Etappe man sich befindet. Nimmt man etwa sein Leben in seiner 
    chronologischen Folge als Anhaltspunkt für Zensuren? Oder bieten die 
    Brüche, Widersprüche und Kontinuitäten seiner historisch-philosophischen 
    Ansätze eine geeignetere Weise, Foucault zu konzipieren?
 
 1970 erscheint „Die Ordnung des Diskurses“, indem er sich für die 
    Kontrolle, Zensur und das Verbot von Rede interessiert: die Konstituierung 
    von Wahrheit durch die Definitionen von Autoritäten bleibt  das 
    entscheidende Thema von 
    Foucault. 1974 publiziert er „Überwachen und Strafen“: Foucault arbeitet 
    heraus, wie die westlichen Gesellschaften seit dem Mittelalter das 
    Gefängnis einsetzen. 1976 erscheint schließlich „Der Wille zum Wissen“, in 
    dem Foucault sich mit der Grenzziehung zwischen normal und anormal 
    beschäftigt; in diesem Buch beschreibt er unter anderem die 
    Europäischen 
    Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Entgegen der damaligen These, dass die 
    bürgerliche Gesellschaft das Thema ‘Sexualität’ unterdrückt, weil sie in 
    dem Bewusstsein lebt, dass alle Kraft und Energie in die Arbeit investiert 
    werden muss, spricht sich Foucault für eine andere Art und Weise aus, diese 
    Gesellschaft zu denken. Er entwirft eine schillernde Gegenthese, die in 
    letzter Instanz nicht nur die Sexualität betrifft, sondern umwirft, wie wir 
    die Geschichte dieser Gesellschaft denken und analysieren. Foucault zeigt 
    die Explosion der Diskurse, die Ausweitung der ‘Rede’ über die Sexualität 
    durch die Institutionen, die sich die bürgerliche Gesellschaft im 19. 
    Jahrhundert selbst gibt und die bis in unsere heutige Zeit überdauern.
    Oft 
    erscheinen sie uns banal und selbstverständlich. Aber mit diesen ‘neuen’ 
    Einrichtungen wie allgemein bildende Schulen, Kasernen, Psychiatrischen 
    Anstalten und 
    Internaten inszeniert diese Gesellschaft einen Diskurs über Sexualität, 
    weil in den Schulen, Kasernen und in all diesen Anstalten verschiedene 
    Lebensentwürfe vorgelebt und verschiedene Sexualitäten durch Rede, also 
    durch Sozialisation, vermittelt und eingeübt werden. Foucault selbst 
    drückte das vor 28 Jahren so aus:
 
 „Das Wesentliche liegt darin, daß seit drei Jahrhunderten der 
    abendländische Mensch an den Imperativ gebunden ist, alles über seinen Sex 
    zu sagen; daß es seit dem klassischen Zeitalter zu einer ständigen 
    Erweiterung und einer immer höheren Bewertung des Diskurses über den Sex 
    gekommen ist (...). Man hat nicht nur den Bereich dessen, was sich über den 
    Sex sagen ließ, ausgebreitet und die Menschen dazu gezwungen, ihn ständig zu 
    erweitern (...) Zensur des Sexes? Eher hat man einen Apparat zur Produktion 
    von Diskursen über den Sex installiert, zur Produktion von immer mehr 
    Diskursen, denen es gelang, zu funktionierenden und wirksamen Momenten 
    seiner Ökonomie zu werden.“
 
 Aber Foucault geht noch weiter. Der Mensch begreife sich erst als Individuum 
    durch diese Diskurse, die in den Institutionen abgehalten werden. Denn was 
    wäre es anderes als die Einübung in das Verhalten von Subjekten und 
    Individuen, das in diesen Anstalten immerfort trainiert wird?
 
 Der Sprung in eine völlig andere Welt, die postmoderne 
    Mediengesellschaft des 20. Jahrhunderts, scheint unmöglich. Birgt doch die 
    bürgerliche Gesellschaft so viele Charakteristika, unterscheiden sich unsere 
    Lebensformen und Denkarten heute in so entscheidenden Weisen von damals. Bis 
    ins 21. Jahrhundert hinein strukturieren diese im 19. Jahrhundert ins Leben 
    gerufenen Institutionen unser Leben: in der Schule wird den Kindern 
    beigebracht, wie sie denken, was logisch ist und was nicht. Denn zwei und 
    zwei sind in diesem Sinne nur vier, weil unsere Kultur das so will. Gut 
    möglich also, dass in anderen Kulturen zwei und zwei gleich zehn gilt, dass 
    andere Kulturen andere logische Schlüsse aufstellen, also auch eine andere 
    Sexualität in den Schulen einüben. Die schnelle und dynamische 
    Mediengesellschaft behält also ihre  feinen Wurzeln, die nur noch selten in 
    Frage gestellt werden. Aber in ihrer 
    Mehrheit haben sie sich in unseren Alltag eingegraben und sie erscheinen uns 
    deswegen als selbstverständlich.
 
 Die 
    Europäischen Gesellschaften bauen 
    diese Systeme sogar noch aus, vertiefen ihre Wirkung und ändern ihre 
    Zusammensetzung, je nach politischer Lage. In diesen Mediengesellschaften 
    reproduzieren sich auf eigentümliche Art und Weise diese 
    institutionalisierten Strukturen, über die wir uns 
    begreifen lernen: Als Menschen, deren sexuelles Verlangen bestimmten Grenzen 
    unterliegt. Und es sind diese Grenzen des Verlangens die das Tabu 
    definieren. Deswegen wird es, so schamlos-schmutzig das Private im TV auch 
    gezeigt wird, immer noch Grenzen und Tabus geben. Reality-Formate brauchen Grenzen und Tabus, die sie 
    überschreiten können, um interessant und spannend genug zu sein. Das Tabu 
    ist aber mehr als kaltes Kalkül. Weil das Private und die Sexualität von 
    einigen  Institutionen in die Medien überschwappt, unterliegen der 
    Inszenierung von Sexualität in den Medien die gleichen Grenzen und Tabus 
    wie jene in all den Foren unsere Gesellschaft, in denen wir 
    über 
    Sexualität erfahren und sie einüben. Damit wird das Reality-TV zu einem 
    Gefangenen seiner selbst: Es kann nur reproduzieren und begrenzt 
    überschreiten, weil es größtenteils in den Strukturen verhaftet bleibt, 
    aus denen es hervorging. Und dies ist so, weil die TV-Macher selbst als 
    sozialisierte Wesen diese Inszenierungen von Privatheit in unserer 
    Gesellschaft erfuhren und durchlebten und nun nur bis zu einem bestimmten 
    Grad im Stande sind, sich von sich selbst zu lösen.
 
 Die TV-Inszenierung von 
    Privatem ist in dieser Mediengesellschaft also nicht viel mehr als eine bloße Reproduktion ihrer selbst. Deswegen wird Big-Brother auch so schnell 
    langweilig, weil es sich abnutzt, wiederholt, sich im Kreis dreht.
  
 
 
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